Mit der Erfahrung von 20 Jahren bei großen französischen und internationalen Retailern teilt Jérôme Radiguer uns seine Analyse des Wandels im Handel und des Potenzials von Marketplaces mit, was seiner Meinung nach das natürliche Ergebnis der digitalen Transformation von Retailern ist.
1. Im vergangenen Jahr verzeichneten die europäischen Marktplätze von Retailern einen spektakulären Anstieg des Datenverkehrs um 60 %. Wie lautet Ihre diesbezügliche Analyse?
Im Zusammenhang mit COVID-19 beschleunigen die zahlreichen Bewegungseinschränkungen der Menschen den spektakulären Aufschwung des E-Commerce. Diese Bilanz dürfte daher weiter steigen, da die Einkäufe über das Internet immer weiter zunehmen. Tatsächlich setzen sich die neuen Gewohnheiten der Verbraucher durch. Der Wendepunkt ist erreicht. Wir werden die Zeit nicht mehr zurückdrehen, und das zwingt die Retailer dazu, sich in kürzester Zeit anzupassen.
Zu diesen Veränderungen gehört auch, dass die Omnichannel-Strategie zu einer absoluten Priorität geworden ist. Stellen wir uns einen Kunden vor, der ein Hemd auf einem Marketplace findet. Er entscheidet sich, es auf der Website der Marke zu kaufen und wählt die Option einer Lieferung innerhalb von 24 Stunden. Bei Erhalt der Bestellung stellt er fest, dass die gewählte Größe nicht stimmt. Daraufhin begibt er sich in das nächstgelegene Geschäft, um vor Ort einen Umtausch vorzunehmen. Dies ist ein Beispiel für ein Omnichannel-Szenario. Für den Verbraucher ist ein reibungsloser Ablauf des Kaufprozesses zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Man muss feststellen, dass der Kunde bereits ein Omnichannel-Kunde ist. Den Retailern bleibt keine andere Wahl, als zu handeln.
2. Warum stellt der Marketplace die kostengünstigste Option für Omnichannel-Einzelhändler dar?
Aus zwei Hauptgründen. Erstens, weil er einem Kundenbedürfnis entspricht. Laut Gartner werden im Jahr 2022 75 % der E-Commerce-Verkäufe über Marketplaces abgewickelt werden. Diese Zahl zeigt deutlich, wie sehr die Verbraucher diesen Kanal schätzen. Es ist DAS Geschäftsmodell, das am besten der Convenience dient (was man mit Bequemlichkeit und Komfort beim Einkaufen übersetzen kann). Denn Convenience macht heute wirklich den Unterschied, und der Endkunde irrt sich da nicht.
Der zweite Grund liegt im Geschäftsmodell des Marketplace, das hauptsächlich auf variablen Kosten beruht. Das heißt, dass der Retailer die Produkte nicht lagert, die Komplexität auslagert (z. B. Mehrfachversand) und eine Gebühr erhebt. Das ist ein zu 100 % erfolgreiches Modell. Dies wird durch die Prognosen von Gartner bestätigt: Bis 2023 werden Organisationen, die seit mehr als einem Jahr Marktplätze betreiben, einen Anstieg ihrer digitalen Einnahmen von mindestens 10 % verzeichnen.
3. Convenience für den Kunden ist nicht neu. Sie war schon immer ein Anliegen der Retailer. Warum rückt sie heute in den Vordergrund?
Ganz einfach, weil sich die Convenience weiterentwickelt hat. In den 1960er Jahren drückte sich dies in dem Gründungsgrundsatz eines Kaufhauses aus, das „alles unter einem Dach“ anbot. Das war die Convenience, die Walmart, Leclerc und Co. ihren Kunden damals boten. Im Jahr 2021 wird diese Convenience neu erfunden. Konkret geht es darum, ein Einkaufserlebnis ohne Einschränkungen zu bieten, und zwar durch:
- eine nahtlose Zugänglichkeit (ich bestelle, wo ich will, wann ich will usw.),
- eine nahezu unbegrenzte Auswahl (ich bin nicht mehr durch den Platz in einem Ladengeschäft oder durch das spezielle Angebot eines Einzelhändlers eingeschränkt),
- einen guten Preis und eine optimale Lieferqualität (egal ob nach Hause, in ein Geschäft, an eine Abholstation, als Rücksendung einer Bestellung usw.).
Laut der Stripe-Studie unterstreicht mehr als ein Drittel der französischen Verbraucher die Zweckmäßigkeit des Marketplace (37 %), den Zugang zu einer größeren Anzahl von Marken (37 %) und die Möglichkeit, neue Marken zu entdecken (33 %). Nun, dies sind Vorteile für den Kunden während seines Kaufprozesses. Sie stellen aber viele Herausforderungen des Omnichannel-Verkaufs für Verkäufer und Betreiber dar.
4. Eben, Octopia hat ein Ad-hoc-Angebot entwickelt, um den neuen Herausforderungen der „Convenience“ dank des Marketplace gerecht zu werden. Was sind die Grundpfeiler?
Wenn Sie führende Unternehmen und die verschiedenen Branchen wie Uber, Airbnb, Blablacar beobachten, die jeweils in ihrer Kategorie führend sind, stellen Sie fest, dass sie zwei Pfeiler gemeinsam haben: eine leistungsstarke und skalierbare Technologie und ein solides Partnernetzwerk.
Von diesem Modell überzeugt, bieten wir also eine technologische End-to-End-Lösung an, die sich auf ein Ökosystem von Partnern stützt (Technologie-, Transport- und Zahlungspartner, Dienstleister und natürlich auch Verkäufer). Dadurch kann das Angebot sehr schnell weiterentwickelt werden, um einen nahezu unbegrenzten Produktkatalog anzubieten und gleichzeitig die Kosten für Vorbereitung, Versand, Lagerung usw. auszulagern. Darüber hinaus bieten wir auch eine echte Expertise auf der letzten Meile (Paketverfolgung, Netzwerk von Lagerhäusern in Europa usw.), die es uns ermöglicht, ein beträchtliches Volumen an Paketen zu verwalten, entweder selbst oder im Auftrag von Verkäufern (über unser Fulfillment-Modul), und den Verbrauchern das beste Erlebnis zu garantieren.
5. Wie sind die Teams von Octopia organisiert, um Retailern bei der Einrichtung eines Marketplace zu begleiten?
Jeder Retailer muss drei Schritte durchlaufen, um seinen Marketplace zu starten. Der erste Schritt ist, den Bedarf des Retailers zu erfassen, der durch seine kommerziellen Ambitionen, die Regionen, in denen er tätig ist, seine IT-Architektur und den eventuellen Bedarf an deren Weiterentwicklung bestimmt wird. Dies ist die Aufgabe der Teams für Verkauf und Vorverkauf, die die optimale Lösung vorschlagen müssen. Der zweite Schritt setzt ein, sobald der Vertrag unterzeichnet ist.
Unsere Solutions Consulting Teams übernehmen die Implementierung der Lösung und begleiten den Kunden dabei bis zum Start seines Marketplace. Dann folgt der dritte und letzte Schritt: Unsere Business Consultants bringen ihr Fachwissen ein, um die digitale Transformation des Retailers zu erleichtern (und beraten, wenn nötig, in den Bereichen Angebotsstrategie, Rekrutierung von Verkäufern, Kundenbeziehungen, Marketing oder auch Personalwesen, um die internen Teams neu zu organisieren usw.).
6. Octopia kann auf 10 Jahre Erfahrung als Marktplatzbetreiber zurückblicken. Was sind die Lehren, die Sie daraus ziehen, um den digitalen Wandel Ihrer Kunden zu fördern?
Erstens unterscheidet sich die Realität des Marketplace-Geschäfts deutlich von der des traditionellen Einzelhandels. Hierbei wird nicht mehr gekauft, um wieder zu verkaufen, und es wird kein Umsatz erzielt, sondern ein Geschäftsvolumen. Die wirtschaftliche Struktur des Modells ändert sich radikal, und deshalb legen wir großen Wert auf die Erstellung des Businessplans, damit die Teams des Retailers dieses neue Modell besser verstehen können.
Zweitens begleiten wir unsere Kunden bei ihrer Sortimentsstrategie, indem wir ihnen raten, entweder Kategorien zu erweitern (um zu rekrutieren) oder zu vertiefen (um eine Expertenposition in einem bestimmten Universum oder einer vertikalen Diversifikation zu haben). Die Auswahl erfolgt auf der Grundlage ihrer Geschäftsstrategie und immer unter Berücksichtigung ihrer Marketingpositionierung. Denn das ist ein häufig wiederkehrender Fehler: Die Retailer erweitern ihr Angebot, ohne ihre Grundlagen zu achten, und letztlich wird ihre DNA verwässert, und ihre Kunden finden sich darin nicht mehr wieder.
7. Sobald die Lösung geliefert wurde, wird der Kunde von einem Octopia Customer Success Manager begleitet. Was ist dessen Rolle?
Seine tägliche Aufgabe besteht darin, die Kunden eng zu begleiten und ihnen zu helfen, die Lösung bestmöglich umzusetzen, um den größten Nutzen daraus zu ziehen und die Leistung zu steigern. Er wird auch die bestimmte Fälle der Nutzung an unsere Teams weiterleiten, um die Lösung in einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu optimieren.
Wenn ein Retailer beispielsweise Schwierigkeiten mit dem Kundenbeziehungsmanagement hat, meldet er seine Probleme an unsere Fachleute, die seinen Teams helfen, indem sie ihnen Standardprozesse vorschlagen, ihnen aber auch beibringen, wie sie ihre eigenen Entscheidungsbäume erstellen können. Tatsächlich steht der Customer Success Manager im Dienste der Zufriedenheit unserer Kunden. Er ist der Garant für die Kundenbindung und den Erfolg der Projekte.
Lesen Sie auch unseren Artikel „Die Zukunft des E-Commerce werden die Marketplaces sein“.
8. Der Retailer wählt bei Einrichtung seines Marketplace die Angebote aus. Welche Ratschläge können Sie ihm geben?
Es ist eine der häufigsten Forderungen von Marketplace-Betreibern, möglichst viele Verkäufer schnell an Bord zu holen. Wenn sie jedoch erst einmal anfangen, kann es zwei oder sogar drei Jahre dauern, bis sie einen ausreichenden Pool an Verkäufern rekrutiert haben. Dies ist auch der Grund, warum laut Gartner nur 5 % der seit 2015 gestarteten Marktplätze ein Umsatzvolumen von über 50 Millionen Euro erzielen. Sie verfügen nicht über einen ausreichend großen Katalog von Händlern. Und das ist auch logisch: Händler werden sich nur registrieren, wenn sie glauben, dass sie auf dem Marketplace genügend Verkaufs-Traffic haben werden.
Zu Beginn ist der Marketplace-Katalog zwangsläufig klein. Es sei denn, der Retailer schließt einen Vertrag mit Octopia ab, um einen Teil des Octopia-Ökosystems von Verkäufern von Anfang an zu integrieren. Das gibt ihm einen echten Geschwindigkeits-Booster, denn der Retailer muss nur Kriterien festlegen (z. B. Lieferung innerhalb von 24 Stunden), um Verkäufer auszuwählen, die seinem Bedarf entsprechen. Er kann dann Hunderte von ihnen auf einmal onboarden. Und das mit der zusätzlichen Gewissheit, aus einem Pool von Händlern auszuwählen, die zuvor von Octopia bewertet wurden, was ein gewisses Qualitätsniveau garantiert.
9. Letzte Frage: Welche Rolle werden Ihrer Meinung nach die Marketplaces im Einzelhandel von morgen spielen?
Sie werden den Handel beschleunigen, indem sie besser und schneller auf die Erwartungen und Wünsche der Verbraucher reagieren. Indem sie die Wertschöpfungskette des Einzelhandels verkürzen und die logistischen Abläufe optimieren, zu einer größeren Wahlfreiheit beitragen und eine schnellere Antwort auf Verbrauchertrends bieten.
Sie verfügen nämlich über eine unglaublich reichhaltige Datenbasis zu allem, was mit den Kaufabsichten der Verbraucher zu tun hat:
- Kaufhistorie,
- besuchte Produktseiten,
- abgegebene Bewertungen,
- Suchanfragen, die in die Suchleiste eingegeben werden usw.
Business Intelligence ist dazu da, all diese Informationen zu erfassen und daraus die Trends von morgen abzuleiten. Dies ist umso leichter, als der Marketplace in seinem Grundmuster bereits ein Trendlabor darstellt. Durch den Zugang zu einem extrem breiten Angebot, dem sogenannten Long Tail, ist der Kunde viel freier in seinen Entscheidungen. Das Angebot im Ladengeschäft ist hingegen naturgemäß durch die Verkaufsfläche oder die Fähigkeit des Einzelhändlers, die Lager aufrechtzuerhalten, eingeschränkt.
Auf einem Marketplace für Prêt-à-porter-Mode beispielsweise ermöglicht das nahezu unbegrenzte Angebot dem Internetnutzer, seine eigenen Trends zu kreieren und nicht einer Mode zu folgen, die von einer bestimmten Marke vorgegeben wird. Letztendlich können all diese Informationen dem Retailer helfen, die Bedürfnisse seiner Kunden zu antizipieren und deren Nachfrage vorwegzunehmen. Und damit das bestmögliche Einkaufserlebnis bieten!
* Brands and Marketplaces Report 2021